Beschreibung
Sie lag damals schon fest auf dem Krankenbette, das sie nicht mehr verlassen sollte. Aber wer von ihren Schmerzen nichts wusste und das feine, edel gebildete Gesichtchen unter dem kostbaren Spitzentuch betrachtete, noch von schwarzen, glänzenden Locken trotz ihrer sechzig Jahre eingefasst, die Augen von einer seltsamen Onyxfarbe in dem bläulichen Weiß unter den breiten Lidern, dazu das Grübchen in der glatten linken Wange, das bei jedem Lächeln sich vertiefte – konnte sich nicht vorstellen, dass die Tage dieser lieblichen alten Frau gezählt sein sollten.
Es gibt ein Buch, vor Zeiten viel bewundert,
Bei Niedrigen und Hohen wohlgelitten,
Ein welterfahrener Tröster, dessen hundert
Geschichtlein sanft in Ohr und Herzen glitten,
In unserm höchst anständigen Jahrhundert
Verpönt indes ob allzu freier Sitten,
Ein Lustwald voll der schönsten Abenteuer,
Nur, wie die Sage geht, nicht ganz geheuer.
ISBN 978-3-962812-73-7 (Mobi), 978-3-962812-72-0 (Epub), 978-3-962812-74-4 (PDF)»Alle deine weißen Zähne hast du noch!« lachte er, »weißt du noch, wie oft wir sie einst gezählt haben? Kannst du jetzt zählen?«
»Das sind ja nicht die gleichen, du Kind!« sagte Vrenchen, »jene sind längst ausgefallen!«
Sali wollte nun in seiner Einfalt jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verschloss plötzlich den roten Mund, richtete sich auf und begann einen Kranz von Mohnrosen zu winden, den es sich auf den Kopf setzte. Der Kranz war voll und breit und gab der bräunlichen Dirne ein fabelhaftes reizendes Ansehen, und der arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche Leute teuer bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden hätten sehen können.
Jetzt sprang sie aber empor und rief: »Himmel, wie heiß ist es hier! Da sitzen wir wie die Narren und lassen uns versengen! Komm, mein Lieber! lass uns ins hohe Korn sitzen!«
Sie schlüpften hinein so geschickt und sachte, dass sie kaum eine Spur zurückließen, und bauten sich einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die ihnen hoch über den Kopf ragten, als sie drinsaßen, sodass sie nur den tiefblauen Himmel über sich sahen und sonst nichts von der Welt. Sie umhalsten sich und küssten sich unverweilt und so lange, bis sie einstweilen müde waren, oder wie man es nennen will, wenn das Küssen zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten sich selbst überlebt und die Vergänglichkeit alles Lebens mitten im Rausche der Blütezeit ahnen lässt. Sie hörten die Lerchen singen hoch über sich und suchten dieselben mit ihren scharfen Augen, und wenn sie glaubten, flüchtig eine in der Sonne aufblitzen zu sehen, gleich einem plötzlich aufleuchtenden oder hinschießenden Stern am blauen Himmel, so küssten sie sich wieder zur Belohnung und suchten einander zu übervorteilen und zu täuschen, soviel sie konnten.
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